- Vermittler, Begleiter, Verführer

Der Sturz der Engel

Allgemein

Die Erzählung von Wesenheiten, die sich – ursprünglich im Gefolge und der Dienerschaft eines guten Schöpfergottes – von diesem losgelöst haben und sich diesem sogar entgegenstellen, findet sich bereits im Zoroastrismus. (Indien?) Sie wird allgemein als Erzählung vom Abfall oder Sturz gottähnlicher Wesen erzählt.
Vielleicht ging dieser Erzählung die ursprüngliche Erfahrung voraus, dass im Leben Gutes oder Schlechtes geschehen kann – eine Lebenserfahrung, die mit dem Wirken göttlicher Wesenheiten in Zusammenhang gebracht wurde (insbesondere mit deren Eigenschaften oder Launen) und welche es deshalb mit Opfergaben, richtigem Verhalten und Ritualen zu besänftigen und günstig zu stimmen galt. Später haben sich wohl Menschen dazu aufgeschwungen, das Gute und das Schlechte in einen grösseren Zusammenhang zu stellen und die Welt als grundsätzlich gut anzusehen. Damit nahmen sie einen ursprünglich guten Schöpfergott und einen ursprünglich guten Schöpfungsplan an. Dieser Wechsel des Weltbildes darf aber nicht in einem heutigen Sinne vermutet werden, etwa in einer intellektuellen und denkerischen Folgerung, sondern er wird vielmehr in bildhaften, tief inspirierten Erfahrungen und Einblicken in das Weltgeschehen aus einer ganz anderen Lebenshaltung und Perspektive heraus vollzogen worden sein – vielleicht irgendwo in jenen dunklen Bereichen von Initiationen, von kontemplativen und rituellen Praktiken, die uns heute schwer zugänglich sind.

Nachdem also die Erfahrung guter und schlechter Lebenslagen auf gute und schlechte Götter und deren Willkür zurückgeführt wurde, begannen die Menschen das Gute wie das Schlechte als Teil eines Ganzen und einer ganzen Welt zu verstehen. Gutes und Schlechtes hatte dieselbe Quelle.

Für das gegenwärtige Denken stellt sich nun die Frage, wie es denn möglich ist, dass aus einer Quelle, welche die Welt geschaffen hat, gleichzeitig welterhaltende Kräfte wie weltzerstörende Kräfte entspringen. Hier zeichnen sich drei mögliche Erklärungen ab, die tatsächlich Teile religiöser oder philosophischer Anschauungen geworden sind:
Zerstörung und Erhaltung sind zwei Kräfte, die der Welt ihre Dynamik verleihen und möglichst im Gleichgewicht gehalten werden sollen. Sie gehören aber beide in die Schöpfung und wurden von einem Schöpfer erschaffen.
Die Zerstörerischen Kräfte waren ursprünglich auch erhaltende Kräfte. Sie sind von ihrer eigentlichen Bestimmung abgekommen und stellen sich gegen den Schöpfer der Welt. Die Möglichkeit dieses Widerstandes haben sie von ihrem Schöpfer selbst erhalten, indem er ihnen den freien Willen verlieh.
Die zerstörerischen Kräfte bedrohen fortlaufend die Welt und die erhaltenden Kräfte. In einer fernen Zukunft, in einer sogenannten Endzeit, werden die zerstörerischen Kräfte die Welt und die erhaltenden Kräfte zerstören. Daraus wird eine neue Welt entstehen, in der es keine zerstörerischen Kräfte mehr geben wird.

In diesem Spannungsfeld von Erzählungen und Erfahrungen ist auch der Höllensturz oder Engelsturz zu verstehen, wie er aus biblischen Quellen, aus dem christlichen Glauben und aus der kirchlich-abendländischen Kunst bekannt ist.

Der Abfall der Engel

Der Engelsturz wird in der christlich-abendländischen Kultur mit drei grundsätzlich verschiedenen Motiven erzählt:

Der gefallene Engel
Im Neuen Testament, in christlichen Interpretationen des Alten Testaments sowie in apokryphen Büchern ist die Vorstellung eines abtrünnigen Engels verbreitet. Der Engel wird für seine Auflehnung bestraft. Gott vertreibt ihn und seine Engel aus dem Himmel. Häufig wurde dieser gefallene Engel dann mit Luzifer oder dem personifizierten Engel mit dem Titel Satan, dem Teufel, in Verbindung gebracht, der nach Lk 10,18 ebenfalls „vom Himmel gefallen“ ist.

Der Fall des Engels wird unterschiedliche erklärt:

Streben nach Gottgleichheit: Im Buch Jesaja (Jes 14,12) wird der König von Babylon - in christlichen Interpretationen mit einem Engel identifiziert - angesprochen, der sich über Gott erheben wollte und dafür in die Hölle fuhr: „Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie bist du zur Erde gefället, der du die Heiden schwächtest! Gedachtest du doch in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über die Sterne Gottes erhöhen; ich will mich setzen auf den Berg des Stifts, an der Seite gegen Mitternacht; ich will über die hohen Wolken fahren und gleich sein dem Allerhöchsten. Ja, zur Hölle fährest du, zur Seite der Grube.“

Stolz: Ezechiel erwähnt in seiner Strafpredigt gegen den König von Tyrus einen „glänzenden, schimmernden Cherub“, dessen „Herz sich hob ob seiner Schönheit“ (Hes 28,14). Daraufhin entweihte er durch „Missetat“ und „unrechten Handel“ sein Heiligtum.
Weigerung, dem Menschen Respekt zu bezeugen: Nach anderer Lehre gebot Gott nach Erschaffung des Menschen seinen Engeln, vor diesem niederzuknien. Einige Engel aber weigerten sich, da der Mensch aus niedrigerem Stoff gemacht sei als sie selbst. Biblische Belege für diese Version gibt es nicht. Ihren Ursprung hat sie wahrscheinlich im Buch Adam und Eva, einem apokryphen Text aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. In ihm bekennt der Teufel gegenüber Adam, er hasse die Menschen deshalb, weil er ihretwegen aus dem Himmel vertrieben worden sei. Der Gedanke taucht auch im Koran auf. In Sure 38,72ff. verweigert Iblis dem Menschen seine Reverenz, da er aus Feuer, der Mensch aber nur aus Lehm geschaffen sei; daraufhin wird er verbannt.
Willensfreiheit: Nach dem Kirchenvater Origenes verleitete die ihnen eingeräumte Willensfreiheit einige Engel dazu, sich mehr und mehr von Gott zu entfernen. Einige wurden dadurch zu Menschen oder gar zu Dämonen und mussten deshalb aus dem Himmel vertrieben werden – nicht ohne die Möglichkeit zu haben, durch Tugend und gottgefälliges Leben dorthin zurückzukehren. Origenes wurde u. a. wegen dieser Lehren als Häretiker exkommuniziert.

Lust: Nach dem apokryphen Buch Henoch ist es sexuelle Lust, die den Sturz der Engel herbeigeführt hat. Gott hatte die Grigori, eine bestimmte Engelgruppe, damit beauftragt, den Erzengeln bei der Schaffung des Gartens Eden zu helfen. Auf die Erde herabgestiegen, verliebten sie sich jedoch in die Menschentöchter, verrieten ihnen himmlische Geheimnisse und zeugten mit ihnen sogar Kinder, das Riesengeschlecht der Nephilim (vgl. hierzu auch Gen 6,1). Darüber war Gott so erzürnt, dass er die Grigori aus dem Himmel verstiess, ihnen ihre Unsterblichkeit nahm und sie in Dämonen verwandelte. Die Sintflut sandte er nicht zuletzt, um das Geschlecht der Nephilim auszulöschen.

Diese Motive treten auch in gemischter Form auf, so zum Beispiel in John Miltons epischem Gedicht Paradise Lost. Dort rebellieren Satan und ein Drittel der Engel gegen Gott, nachdem dieser seinen Sohn als Herrscher eingesetzt hat. Satan und seine Verbündeten sind zu stolz, um sich der Herrschaft von Gottes Sohn unterzuordnen. Sie machen von ihrem freien Willen Gebrauch, verweigern Gott den Gehorsam und bereiten sich für einen Angriff vor. Daraufhin entbrennt ein drei Tage währender Kampf zwischen den gottestreuen Engeln und den Rebellen, an dessen Ende Gottes Sohn in Gottes Auftrag die ungehorsamen Engel aus dem Himmel vertreibt und sie in die Hölle stürzen lässt. Nach dem Fall rächt sich Satan, indem er die von Gott geliebten Menschen zum Essen der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis verführt.

Sieg über den Teufel in der Apokalypse
Während in der christlichen Tradition die Geschichten von den gefallenen Engeln in grauer Vorzeit spielen und häufig mit der Erschaffung des Menschen in Zusammenhang stehen, kann sich das christliche Höllensturz-Motiv auch umgekehrt auf Vorgänge am Ende der Zeiten beziehen:
In der Offenbarung des Johannes (Offb 12,3 ff.) erscheint ein Drache, oft mit dem Teufel identifiziert, mit „sieben Häuptern und zehn Hörnern“, wo er mit seinem Schwanz ein Drittel der Sterne hinwegfegt und den Knaben des Weibes zu verschlingen droht. Daraufhin entbrennt ein Kampf zwischen Gott und dem Drachen: „Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen. Und der Drache stritt und seine Engel und siegeten nicht; auch ward ihre Stätte nicht mehr funden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der grosse Drache, die alte Schlange, die da heisst der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführet; und ward geworfen auf die Erde; und seine Engel wurden auch dahin geworfen.“ Die letzten Worte, die der Teufel vor seinem Sturz hörte, sollen „Wer ist wie Gott?“ gewesen sein – was eine wörtliche Übersetzung des hebräischen Namens Michael darstellt.
Die endgültige Vernichtung des hinabgestoßenen Teufels lässt freilich auf sich warten. In Offb 20,2 ff. heisst es weiter: „Und er (ein Engel) griff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund und verschloss ihn und tat ein Siegel oben darauf, dass er nicht mehr verführen sollte die Völker, bis dass vollendet würden die tausend Jahre. Danach muss er los werden eine kleine Zeit... Und wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis und wird ausgehen, zu verführen die Völker an den vier Enden der Erde... Und der Teufel, der sie verführete, ward geworfen in den Pfuhl von Feuer und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war, und werden gequälet werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Verwandte Erzählungen und Motive

Die Erzählungen vom Anfang der Welt bis zu ihrem Ende und Neubeginn heben die Welt, die wir kennen, in ein überweltliches transzendentes Geschehen. Oft wird darin der Schöpfungsakt als eine Art Neuordnung der Kräfte verstanden, in deren Verlauf böse oder zerstörerische Kräfte eine Rolle spielen – teils, weil die geschaffene Welt einen vorübergehenden Zustand darstellt, welcher dereinst wieder aufhören wird, und teils, um die Eigenart und das Schicksal der Menschen zu erklären.
Dabei lassen sich folgende Motive unterscheiden:

1. Trennung einer ursprünglichen Einheit
in eine anfängliche Polarität oder in verschiedene Bestandteile, zu denen auch dunkle oder böse Teile gehören:
Besonders im Daoismus, wo das Böse mit dem Guten gemeinsam die Dynamik der Welt aufrechthält. Dann aber als Motiv in fast allen Schöpfungserzählungen (z. B. Scheidung von Licht und Dunkelheit, Gen 1, 4).

2. Besiegung des Chaos und Gründung einer lebenserhaltenden Ordnung, wobei das Chaos oft als Urgrund oder Nährboden für alles entstehende Leben geschildert wird oder die Chaosmächte Vorfahren der ordungsschaffenden Götter sind.
Bekannt ist der Sturz der Titanen aus der griechischen Mythologie; der Kampf des babylonischen Hauptgottes Marduks gegen Tiamat; die Tötung des Urriesens Ymir in der nordischen Sage. Natürlich gehören auch die Heroengeschichten in diese Kategorie (Tötung des Drachens oder Ungeheuers, Überwindung von Dämonen und bösen Menschen), die in fast allen Kulturkreisen vorkommen. Der Tiefenpsychologe C. G. Jung bringt das Motiv der Chaosbekämpfung in einen lebendigen menschlich-seelischen Zusammenhang: als Teil der Menschwerdung (Stichworte: Individuationsprozess, Mutterarchetyp, Herosarchetyp).

3. Eine Gottheit bestraft den Hochmut oder den Ungehorsam ihrer Geschöpfe und verstösst sie.
Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und von Zeus dafür an einen Felsen gekettet wird; Hephaistos wird von Hera wegen Kleinwuchs und Hässlichkeit vom Olymp geworfen; Vertreibung aus dem Paradies (biblisch) und Engelsturz. In J.R.R. Tolkiens literarischem Werk opponiert der gefallene Ainu Melkor gegen Iluvatar, den höchsten Gott dieser Welt, und wird in die zeitlose Leere verbannt.
Ein ähnliches Motiv weisen auch die Erzählungen von Phaeton (der Sohn des griech. Sonnengottes, der selber den Sonnenwagen fahren wollte und es mit seinem Leben bezahlte) und Ikaros (der mit seinen Flügeln aus Federn und Wachs zu hoch fliegen wollte und der Sonne zu nahe kam).

4. Opferung und Überwindung des Bösen
Erzählungen, in denen das Böse nicht durch Kampf überwunden wird, sondern durch Selbstopferung oder durch die scheinbare Niederlage des Guten, sind auch weit verbreitet. Die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi; Selbstopferung des Urriesen Purusha (Hinduismus); Odin, der sich an der Weltesche Yggdrasil aufhängt, um Weisheit zu erlangen; zwei Götter opfern sichin einer mittelamerikanische Legende, um zu Sonne und Mond zu werden; Selbstopferung des verzweifelten und gefangenen Samsons im Alten Testament; Praktiken gnostischer Mysterienreligionen und orientalischer Initiationsriten, bei denen Menschen die Grenze des Todes überwinden mussten, um in Kontakt mit der geistigen Wirklichkeit zu kommen; Antinoos, der sich nach einer erzählung für den Kaiser Hadrian geopfert haben soll.

Luzifer

Im Buch Ijob (um 250-200 v. Chr.) erscheint Satan nicht als widergöttliche Macht, sondern als einer der Engel vor Gott (Hi. 1, 6) und schliesst mit Gott die „satanische Wette“ um Hiobs Gottestreue (v. 11f). Zwischen ihm und der Schlagne im Paradies wird kein Zusammenhang gemacht. Der jüdische Satan ist nur der Ankläger am göttlichen Gerichtshof und handelt in Gottes Willen.

An mehreren Stellen (Jes 14,12, Ez 28,14, Offb 12,7ff. und 19,20-20,10) berichtet die Bibel auch von einem „gefallenen“ Engel, der sich über Gott und den von ihm geschaffenen Menschen zu erheben versucht hat und dafür mit Verbannung aus dem Himmel bestraft wurde („Höllensturz“). Später wurde er als Luzifer (Lichtträger) bezeichnet und mit dem Teufel in Verbindung gebracht.

In die Erzählung vom gefallenen Engel spielen aber noch andere Textpassagen aus dem Altem Testament, etwa diejenigen, welche von tief gefallenen Königen handeln: Jes. 14 vom König zu Babel, Hes. 28 vom König zu Tyrus. Im Neuen Testament erscheint dann der Satan nicht mehr explizit als ehemaliger gefallener Engel, sondern als Widersacher, den es zuletzt zu überwinden gilt (Lk 10; Offb. 12). Bei den drei Versuchungen Christi tritt er als allein handelnder Versucher auf (Mt 4, 5-7; Lk 4, 9-13 und Mk 1, 13). Letztlich bleibt es biblisch unklar, woher genau Satan kommt.

In Volkserzählungen tritt besonders der Vampir als geflügelter Dämon auf oder der Untote, der aufgrund eines Zaubers oder eines tiefen seelischen Konfliktes nicht sterben kann oder will und das Leben von Menschen bedroht.

In der Anthroposophie wird Luzifer als „Lichtträger“ (Lucifer = lat. Lichtträger) verstanden, der die Menschen aus dem irdischen Dasein in ein sinnlich-geistiges Zwischenreich führen will (anstatt in die rein geistige Wirklichkeit Gottes). Luzifer ist es nach Rudolf Steiners Ausführungen auch, der Adam und Eva im Paradies verführte und ihnen zu früh die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen gab, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Menschen noch nicht bereit dafür waren. Seither sind die Menschen tiefer in die sinnliche Welt geraten und wurden für andere widergöttliche Wesenheiten zugänglich.
Die Tätigkeit Luzifers hat also das Wirken des zweiten bösen Geistwesens, das Rudolf Steiner Ahriman nennt, ermöglicht. Ahriman hingegen möchte die Menschen in ein sinnlich-materielles Zwischenreich führen, das auch als untermenschlich bezeichnet werden kann.
In der Anthroposohpie gibt es demnach zwei gefallene Engel mit ihren jeweilgen zugehörigen Engeln: Luzifer und Ahriman. Luzifer, der rauschhaft, schwelgerische und weltflüchtige Engel, der die Menschen mit dem Gefühl von Genuss und Auflösung lockt, steht gegenüber Ahriman, dem materialistisch-technischen, kalt berechnenden Engel, der die Menschen mit Kontrolle und Vereinheitlichung lockt. Dazwischen sieht die Anthroposophie Christus, der die Menschen zu ihrer eigenen Bestimmung bringt und sie zu Freiheit, Liebe und ewigem Leben (Weiterentwicklung) führt.